Heraus zum libertären 1. Mai! [Aufruf Phoenix/LUST]

Der 1. Mai ist der Kampftag der Arbeiter_innenbewegung und der Sozialist_innen. Trotz des Scheiterns dieser Bewegungen ist es richtig, an diesem Tag auf die Straße zu gehen und damit zu zeigen, dass das Ende der Geschichte mit dem Kapitalismus nicht erreicht ist, nicht erreicht sein darf. Dabei gilt es aus unserer Sicht allerdings, einige Einschränkungen zu beachten.

Wenn wir auch dieses Jahr wieder dazu aufrufen, sich mit Genoss_innen zu treffen und am 1. Mai gegen Kapitalismus und Herrschaft zu demonstrieren, dann tun wir dies nicht ohne Vorbehalt. Denn der 1. Mai ist traditionell der Kampftag der Arbeiter_innenbewegung, doch diese Bewegung gibt es in Deutschland nicht mehr oder nur noch in traurigen Verfallsformen. Mit dem 1. Mai 1933 hatte eine Entwicklung ihren Höhepunkt erreicht, im Zuge derer jegliche emanzipatorische Ziele, für die diese Bewegung einmal gestanden hatte, fallen gelassen oder in ihr Gegenteil verkehrt worden waren. Es war der Tag, an dem die Bereitwilligkeit der überwiegenden Mehrheit der deutschen Arbeiter_innen, sich an der Konstituierung der Volksgemeinschaft zu beteiligen und die menschenverachtende Nazi-Ideologie mitzutragen, offensichtlich wurde. Die Nazis waren es, die den 1. Mai zum Feiertag erklärten, an dem dem „deutschen Arbeiter der Faust“ gehuldigt wurde, der sich täglich klein und den Rücken krumm machte, damit Deutschland stark wird. Damit wurde den Arbeiter_innen, die laut Marx‘ Analyse keinen Platz in der bürgerlichen Gesellschaft und deshalb das Potential zur Sprengung dieser Gesellschaft gehabt hatten, ein solcher Platz zugewiesen, sie wurden integriert – in die Mordgemeinschaft der Deutschen.

Die in der Arbeiter_innenklasse vorherrschende Ideologie hatte Staat, Nation und Volk nicht als menschenfeindliche Zwangskollektive verdammt, sondern diesen Konzepten mit der Idee des Volkes und der Volkssouveränität Vorschub geleistet, die nur noch zur Volksgemeinschaft umgedeutet werden mussten. „Nationale Befreiung“ galt vielfach als Voraussetzung der sozialen Revolution: Insbesondere in Deutschland hetzten auch die Sozialdemokrat_innen und Kommunist_innen gegen den „Zwangsfrieden von Versailles“, der als imperialistische Unterdrückung Deutschlands gedeutet wurde. Die sozialistischen Führer_innen hatten auf einfache Propaganda gesetzt, nicht auf eigenständiges Denken. Die Sozialdemokrat_innen hatten die Arbeiter_innen über die Gewerkschaften in die Sozialpartnerschaft geführt, in der es an der Seite der Unternehmer_innen für einen reibungslosen Ablauf der Produktion zu sorgen galt. Die Kommunist_innen hatten die Arbeiter_innen den Kapitalismus nicht als das anonyme, apersonale Herrschaftsverhältnis zu begreifen gelehrt, das er längst war und noch heute ist. Sie hatten den Arbeiter_innen vorgemacht, den Kapitalisten zu hassen anstatt ihren Zorn auf die Gesellschaftsordnung zu richten, in der sie lebten und unter der sie litten. Das alte manichäische Feindbild des Kapitalisten durch das des raffgierigen Juden zu ersetzen, der sich ohne Skrupel und ohne eigene Arbeit an ihnen bereicherte, war von da aus nur noch ein kleiner, wenn auch entscheidender Schritt. Alle Strömungen der Arbeiter_innenbewegung hatten sie gelehrt, die Lohnarbeit nicht als würdelose, fremdbestimmte Tätigkeit zu deuten, sondern als Quelle ihres Stolzes, die sie erst zu dem machte, worauf sie stolz waren: ein_e Arbeiter_in zu sein, und dazu noch ein_e deutsche_r. Sie hatten ihnen Lassalle, Bebel, bei den Sozialdemokrat_innen später Ebert, bei den Kommunist_innen Lenin, Stalin und Thälmann als starke Führer präsentiert, auf deren entschlossenes Handeln es eher ankäme als auf die selbstbestimmte Macht der aufgeklärten und zur Emanzipation entschlossenen Massen, die von diesen Führern nur noch geleitet und zur Erlösung geführt werden müssten. Entgegen ihrer Absicht und trotz der erbitterten Feindschaft, die die sozialistischen Bewegungen von Beginn an mit Faschismus und Nationalsozialismus verband, hatten sie die deutschen Arbeiter_innen auf ihre Rolle in der Volksgemeinschaft vorbereitet. Der Grund hierfür liegt in einer unzureichenden Analyse der kapitalistischen Gesellschaft.

Auch nach der militärischen Niederlage der Volksgemeinschaft verschwand die ihr zugrundeliegende Ideologie keineswegs, die Arbeiter_innenklasse kehrte nicht als revolutionäres Subjekt zurück. Anstatt sich den Verbrechen zu stellen, blieb die Arbeiter_innenklasse in  sozialdemokratischer und parteikommunistischer Tradition verhaftet. Zu stark war auch das Denken in betriebsgemeinschaftlichen Kategorien und das Versprechen steigenden Wohlstands, dass die Sozialpartnerschaft in Westdeutschland gab und über einige Jahrzehnte auch erfüllte. Und zu schwach war die Strafe für die Täter_innen, die doch gegen die neuen Feinde des Kalten Krieges auf dieser wie auch auf jener Seite des Eisernen Vorhangs gebraucht wurden, als dass dies eine bleibende geschichtliche Lehre hätte sein können, aus der die Deutschen wenigstens geschlossen hätten, dass es sich nicht lohnt, die Welt unterjochen zu wollen, weil die Folgen zu schwerwiegend sind.
Dennoch haben die Sozialist_innen jeder Couleur weiter den 1. Mai gefeiert, haben die Tradition ihrer Bewegung, der Arbeiter_innenbewegung, beschworen, als wäre nichts gewesen.

Aber es gab da auch immer den anderen Pol: Immer wieder hatte sich der beste Teil der Arbeiter_innenklasse und der sozialistischen Bewegungen als resistent gegen die Versuche erwiesen, sie in den Dienst der Herrschaft einzuspannen. Sie hatten sich geweigert, sich gegen die Arbeiter_innen anderer Länder in die Schützengräben werfen zu lassen. Für die Kommunist_innen gehört der „Klassenverrat“, den die sozialdemokratischen Führungen in allen Ländern mit Ausnahme Italiens begangen hatten, als sie entgegen den Beschlüssen der Sozialistischen Internationale an der Seite ihrer Regierungen in den ersten Weltkrieg marschierten, zum Gründungsmythos ihrer Bewegung. Erst im Widerspruch gegen den Weltkrieg trennten sich die revolutionären Kommunist_innen von der Sozialdemokratie, die längst in der bürgerlichen Gesellschaft und in der Betriebsgemeinschaft angekommen war. Im Widerspruch gegen ihre Theorie der Kaderpartei, der starken Männer und Frauen, die die Arbeiter_innen leiten mussten, trennte sich von ihnen selbst wiederum die rätekommunistische Bewegung, die auf die Selbstbestimmung der Arbeiter_innen setzte und keine Herrschaft innerhalb der Bewegung selbst erdulden wollte. Aber auch sie konnten noch nicht vom Bild des starken Arbeiters lassen, der mit eisernen Muskeln das kapitalistische Ausbeutungssystem zerbrechen würde.

Wenn wir am 1. Mai auf die Straße gehen, dann muss klar sein, dass wir uns nicht ungebrochen in die Tradition der Arbeiter_innenbewegung stellen können. Wir müssen unsere unversöhnliche Haltung zu allen antiemanzipatorischen Haltungen zum Ausdruck bringen, für die diese Bewegung eben auch stand. Die Verehrung des Arbeiters als Arbeiter, traditioneller Bestandteil der Maifeierlichkeiten, löst bei uns allenfalls Übelkeit aus. Stattdessen müssen wir betonen, dass es ein elender Zustand ist, ein_e Arbeiter_in zu sein und des Menschen nicht würdig. Staat, Nation und Volk müssen als menschenfeindliche Zwangskollektive kritisiert werden, die die Arbeiter_innen in eine Ordnung der Ausbeutung zwingen, deren Herr das Kapital ist, ein automatisches Subjekt, das dem Leid und Elend der Menschen gegenüber indifferent ist und dessen einziges Anliegen es ist, sich verwerten zu können. Genauso gilt es aber auch, jeder sogenannten „verkürzten Kapitalismuskritik“, die in Wirklichkeit nicht verkürzt, sondern einfach falsch ist, den Kampf anzusagen. Hetze gegen „die da oben“, das führt nicht zur Befreiung, sondern im schlimmsten Falle zum Pogrom. Und selbst wenn sie nicht zum Pogrom führt, sondern nur in sozialdemokratisches Einverstandensein mit der Ordnung oder autoritär-kommunistischen, scheinradikalen Antiimperialismus, dann ist das kein Schritt in Richtung allgemeiner Emanzipation.
Und nicht zuletzt gilt es, sich in die Tradition derjenigen zu stellen, die als Dissidenten der Arbeiter_innenbewegung immer wieder bewiesen haben, dass auch in dunklen Zeiten helle Gedanken gedacht werden können und die in dieser Haltung in Widerspruch zur Mehrheit der sozialistischen Arbeiter_innenbewegung gerieten, von dieser oft genug ausgegrenzt und angefeindet.

Die herrschende Ordnung jedenfalls ist so elend, dass wir nicht sein können, ohne ihr den Kampf anzusagen. Heraus zum libertären 1. Mai!

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